Der Landkreis Gießen bietet Perspektiven

Wie funktioniert kommunale Selbstverwaltung? Welche Aufgaben und Pflichten erfüllen Städte und Gemeinden in Deutschland? Diesen Fragestellungen gehen derzeit fünf junge Geflüchtete aus Syrien in der Gießener Kommunalverwaltung nach. Die drei Frauen und zwei Männer hatten sich nach einer dreitägigen Veranstaltung zum Thema „Was macht eine Kommunalverwaltung?“ auf die Ausschreibung in Gießen beworben und wurden unter fast 30 qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern ausgewählt. Seit Herbst und Winter 2018 absolvieren sie nun ihre sechs- bzw. zwölfmonatigen Praktika in der Verwaltung des Landkreises und der Stadt Gießen.

Das Interesse an demokratischen Verwaltungsstrukturen ist groß, denn die jungen Syrerinnen und Syrer eint der Wunsch, eines Tages mit ihrem Know-how zum Wiederaufbau der Kommunalstrukturen in Syrien beizutragen. „Natürlich wissen wir nicht, wann der Krieg einmal zu Ende sein wird, aber wir wollen Menschen befähigen, sich am Wiederaufbau zu beteiligen, sobald das möglich ist“ bekräftigt Istayfo Turgay, Dezernent für Integration, Anti-Diskriminierung und Teilhabe des Landkreises, der das Projekt unterstützt und den jungen Leuten als wichtiger Ansprechpartner zur Seite steht.

Die Praktikantinnen und Praktikanten lernen während ihres Praktikums verschiede Bereiche und Abteilungen der Kommunalverwaltung kennen. Schwerpunkte sind die Bereiche Planen, Soziales und Demokratie. In allen Ämtern bekommen sie Einblicke in die Verwaltungsabläufe, können Fragen stellen und lernen ihre Gießener Kolleginnen und Kollegen kennen. Solange keine Pläne für eine Rückkehr nach Syrien geschmiedet werden können, haben die fünf jungen Leute vor allem ein Ziel: noch besser in Deutschland anzukommen.

Nicht nur für die fünf Syrerinnen und Syrer waren zu Beginn viele Abläufe ungewohnt, auch die Kreisverwaltung hat mit dem Projekt Neuland betreten. Die Bedenken einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten nach den ersten persönlichen Kontakten schnell ausgeräumt werden. Alle waren beeindruckt von der Einsatzbereitschaft und der Qualifikation der syrischen Kolleginnen und Kollegen. Diese wiederum fühlten sich von Beginn an akzeptiert und wertgeschätzt.

Mit der Projektteilnahme hat der Landkreis Gießen einen weiteren wichtigen Schritt in Richtung interkultureller Öffnung der Verwaltung gemacht. Die Mitarbeitenden haben ein besseres Verständnis für den Hintergrund ihrer neuen Kolleginnen und Kollegen entwickelt. Das stärkt die interkulturelle Kompetenz und den sozialen Zusammenhalt im Landkreis, dessen Einwohnerinnen und Einwohner heute schon zu einem Drittel einen Migrationshintergrund haben. Mit einer Verbesserung der politischen Lage in Syrien ist derzeit noch nicht zu rechnen. „Wer nicht die Perspektive einer baldigen Rückkehr hat, soll hier in Gießen einen Anker finden“, sagt Dezernent Turgay. Für ihn ist das Projekt daher auch ein wichtiger Beitrag zur Integration von Geflüchteten in die deutsche Gesellschaft.

Die Servicestelle Kommunen in der Eine Welt wirkt parallel dazu darauf hin, ein Netzwerk von Syrerinnen und Syrern sowie deutschen Kommunen zu gründen, die sich für den Wiederaufbau kommunaler Strukturen in Syrien interessieren. Bereits zweimal trafen sich die 25 Praktikantinnen und Praktikanten aus den sieben Modellkommunen und diskutierten gemeinsam, was von dem Gelernten sie für syrische Kommunen als sinnvoll oder wünschenswert erachten. Hier waren sich alle einig: sie erleben das Projekt als wichtige Chance, ihre Zukunft zu gestalten.