Frau Dietzel, Sie sind „Gender Advocacy Referentin“. Warum gibt es diese Position bei CARE?
Ich habe meine Stelle bei CARE im Jahr 2021 angetreten. Mit dieser und der Stelle einer eher technisch orientierten Referentin in der Programmabteilung hat CARE Deutschland nun zwei designierte „Gender-Stellen“, mit denen wir unsere Fachexpertise im Bereich weiter ausbauen. Die Gleichstellung der Geschlechter ist seit Jahrzehnten das zentrale Organisationsprinzip von CARE International. Die Überwindung von Armut, die Anpassung an und der Kampf gegen die Klimakrise, die gesundheitliche Chancengleichheit, das Recht auf Nahrung, Wasser und Ernährung oder der gleichberechtigte, bedarfsgerechte Zugang zu humanitärer Hilfe – all das kann nicht erreicht werden, ohne die Ungleichheit der Geschlechter anzugehen. Bis 2030 will CARE mit ihren Partner*innen 50 Millionen Menschen dabei unterstützen, mehr Geschlechtergleichheit in ihrem Leben zu erfahren. Eine „Gender Advocacy Referentin“ zu beschäftigen, also eine Person, die sich im Auftrag der Organisation auch auf politischer Ebene für Geschlechtergerechtigkeit einsetzt, ist da nur folgerichtig.
Hat die Einführung der feministischen Außen- und Entwicklungspolitik seitens der Bundesregierung Auswirkungen auf Ihre Arbeit?
CARE hat die Gleichstellung schon länger im Fokus. Auf unsere Arbeit hat sich das daher nicht unmittelbar ausgewirkt. Was sich aber geändert hat, ist die Resonanz nach außen. Alle Aktivitäten, die wir unternehmen, basieren auf unserem Gender Equality Framework (deutsch: Rahmenwerk für Geschlechtergleichheit). Hier gibt es viele Anknüpfungspunkte zu den Ansätzen der Bundesregierung. Dass das Thema politisch nun weiter oben auf der Agenda steht, merke ich unter anderem an meiner eigenen Arbeit, konkret bei Veranstaltungen, an denen CARE mitwirkt. Ehe die feministische Außen- und Entwicklungspolitik zum großen Thema wurde, wurde Geschlechtergerechtigkeit zum Beispiel in Paneldiskussionen mit dem Ministerium und Vertretenden aus der Politik meist nur am Ende in wenigen Minuten abgehandelt. Jetzt sind ganze Veranstaltungen in allen Sektoren auf Geschlechtergerechtigkeit ausgerichtet.
War die politische Neuausrichtung überfällig?
Es ist über Jahrzehnte zu beobachten, dass sich Ungleichheiten auf verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen wegen ungleichen Geschlechterrollen verschärfen. Der Ansatz der Politik, das nun aufzugreifen, ist aus meiner Sicht ein logischer Schritt. Momentan passiert vieles sehr schnell. Ich hoffe, der Begriff „feministische Entwicklungspolitik“ wird bei diesem Tempo nicht zur leeren Hülle.
Wie weit ist die Bundesregierung – Ihrer Einschätzung nach – mit der Umsetzung der neuen Strategie in einem Jahr vorangekommen?
Das BMZ und das Auswärtige Amt haben ihre strategischen Dokumente zum Thema im März diesen Jahres veröffentlicht. Da war noch nicht viel Zeit für eine Umsetzung. Gut ist aber, dass sich der Ton geändert hat. Hier merkt man: es passiert etwas. Es ist aber noch offen, wie sich das langfristig auf die Projekte auswirken wird. Multilaterale Organisationen, zum Beispiel UN Women, haben bereits mehr Fördergelder zugestanden bekommen. Es gibt einen leichten Rückenwind. Doch Feministische Außenpolitik bedeutet auch, dass die Zivilgesellschaft gestärkt werden muss. Mehr Finanzmittel müssen in verschiedene Foren in diesem Bereich fließen und zugänglicher für die Zivilgesellschaft werden. Wie das geschehen soll, ist noch unklar. Auch wie sich der Ansatz auf die Zivilgesellschaft des Globalen Südens auswirkt, steht noch in den Sternen.
Was kann die Zivilgesellschaft Deutschlands tun, um die neue Richtung zu unterstützen?
Feministische Ansätze stellen ungleiche Machtstrukturen in Frage. Eine Diskussion und Reflektion patriarchaler, rassistischer und kolonialer Strukturen in Deutschland ist dafür die Grundlage. Wir können Ungleichheit nicht nur woanders bekämpfen. Wir müssen unsere Rolle und Position dabei kritisch reflektieren und mit der Veränderung bei uns selbst beginnen.
Geschlechtergerechtigkeit ist einer der Schwerpunkte Ihrer Arbeit. Wie setzen Sie das um?
Vor Beginn eines jeden Projektes starten wir gemeinsam mit den Partnern vor Ort und auch der betroffenen Personengruppe eine „Rapid Gender Analyse“. Wir besprechen hier beispielsweise mit Frauengruppen, wo die Herausforderungen liegen, die wir gemeinsam angehen müssen. Mit unserem „Women Lead in Emergencies“-Ansatz legen wir dann den Fokus darauf, dass Frauengruppen in humanitären Krisen die Ziele eines Projekts selbst definieren und ihre Aktivitäten mit Budget umsetzen können. Das kann bedeuten, dass sie Englischkurse anbieten, weil sie als Geflüchtete nun in einem Kontext leben, in dem für die soziale und politische Teilhabe Englisch ausschlaggebend ist. Oder Busfahrten werden finanziert, um sich in der Distrikthauptstadt beim Bürgermeister für den Wiederaufbau einer Schule einzusetzen. Frauen haben in allen Gesellschaften dieser Welt schlechteren Zugang zu vielen Lebensbereichen. Wir arbeiten gemeinsam mit den Frauen daran, dass sie ihre Anliegen vertreten können und mehr Einfluss bekommen, ihre Interessen umzusetzen.
Wenn wir von Geschlechtergerechtigkeit sprechen – sprechen wir hier wirklich von allen Geschlechtern oder liegt bei Ihrer Arbeit der Schwerpunkt doch eher auf Frauen und Mädchen?
Geschlechtergerechtigkeit schließt alle Menschen ein und verfolgt das Ziel, dass alle gleiche Chancen haben. Fakt ist aber, dass die gängige Norm meist die männliche Perspektive auf Dinge ist. Gleichzeitig sind die, die benachteiligt werden und im Vergleich schlechter gestellt sind, überwiegend Frauen und Mädchen. Aus entwicklungspolitischer und humanitärer Sicht ist es daher sinnvoll, den Fokus auf diese Gruppe zu richten. Wenn wir ihre Bedarfe berücksichtigen, können wir insgesamt mehr Menschenleben retten und Veränderung wird nachhaltiger. Es ist aber auch so: Geschlechterrollen, die Frauen und Mädchen auf bestimmte Bereiche beschränken, werden auch und vor allem von Männern und Jungs mitgetragen. Und das, obwohl auch sie dadurch auf stereotype Rollen beschränkt werden. Deshalb arbeiten wir mit allen Geschlechtern zusammen, damit am Ende alle die gleichen Chancen haben und nachhaltige Veränderung eintritt.