Die Stadt von morgen

Frau Dr. Kordfelder, Sie sind als ehrenamtliche Botschafterin für kommunale Entwicklungspolitik im Auftrag des BMZ unterwegs, welche Aufgaben haben Sie in diesem Amt?

Dr. Angelika Kordfelder: Bei der Botschaftertätigkeit geht es insbesondere um die Umsetzung der Agenda 2030 und in dem Zusammenhang auch um die 17 Sustainable Development Goals (SDGs) auf der lokalen Ebene. Das betrifft das gesamte Thema Nachhaltigkeit, wie zum Beispiel fairer Handel, faire Beschaffung, Migration, Entwicklung auf der lokalen und es geht um kommunale Beziehungen auf der internationalen Ebene und Partnerschaftsarbeit. Für all das machen wir als Botschafterinnen und Botschafter Werbung.

Wie sieht vor dem Hintergrund der Agenda 2030 und deren 17 Ziele die Stadt von morgen aus?

Dr. Angelika Kordfelder: In der Stadt von morgen soll es darum gehen, die Nachhaltigkeitsstrategien und die strategischen Ziele, die sich hinter den SDGs verbergen, umzusetzen. Das geht von der gesellschaftlichen Teilhabe und Genderaspekten über den ganzen Komplex Arbeit und Wirtschaft, über natürliche Ressourcen und Umwelt, bis hin zu Klima, Energie und Mobilität. Das sind Themen, mit denen wir uns heute schon beschäftigen, um durch die Umsetzung der Agenda 2030 eine wirklich lebens- und liebenswerte Möglichkeit für die Menschen zu haben, da zu leben, wo sie sich wohlfühlen. Es ist sozusagen das „Oberziel“, dass wir die Nachhaltigkeitsziele verinnerlicht haben und es zu einer Selbstverständlichkeit wird, nachhaltig zu denken, zu leben und zu agieren. Die meisten Leute denken natürlich, Nachhaltigkeit hat immer mit Klimaschutz und Fairtrade zu tun. Die 17 Ziele lassen sich aber auf alle Lebensbereiche runterdeklinieren. Bei den Akteurinnen und Akteuren in den Kommunen ist das mittlerweile angekommen.

Kennen Sie ein Beispiel aus einer Kommune, die die Nachhaltigkeitsziele schon ganz gut umsetzt?

Dr. Angelika Kordfelder: Die Stadt Rostock hat sich mit einem Projekt dem SDG Nummer 8 „Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“ gewidmet. Hier gibt es mittlerweile in über 80 Rostocker Geschäften und 40 gastronomischen Betrieben Produkte aus fairem Handel. Diese sind auch in einem Atlas im Internet zu finden. Auch Schulen, diverse Bildungsträger, die Uni und Kirchen sind in diesem Zusammenhang aktiv. Koordiniert wird das Projekt durch eine hauptamtliche Fairtrade Koordinatorin. Vielleicht noch griffiger ist das Beispiel der Stadt Freiburg zum Thema SDG 12, „Nachhaltiger Konsum und Produktion“. Hier wurde ein Mehrwegpfandsystem für Kaffeebecher eingeführt. Der sogenannte Freiburg-Cup ist eine gemeinsame Aktion der Stadt und der Freiburger Abfallwirtschaft und Stadtreinigung, in Kooperation mit der Freiburger Gastronomie. Diese stellen den Kaffeebetreibern die Mehrwegbecher kostenlos bereit.

Herr Dr. Wilhelmy, wie sähe die Stadt von morgen für Sie aus? Mit welchen Themen beschäftigt sich diese Stadt?

Dr. Stefan Wilhelmy: Ich möchte auch den Aspekt der Nachhaltigkeit unterstreichen, die oft mit einer rückwärtsgewandten, bestandswahrenden Sichtweise verwechselt wird. Die Stadt von morgen wird sich aber vor allem darin auszeichnen, dass sie sich globalen Herausforderungen stellt und sich für zukünftige Herausforderungen gut vorbereitet. Die aktuelle Corona-Pandemie ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch deutsche Städte zunehmend mit globalen Veränderungen konfrontiert sein werden. Und daher wird es aus meiner Sicht für die Stadt der Zukunft ganz zentral sein, dass man damit gut umgehen kann. Unsere Kommunen sind international vernetzt – auch wirtschaftlich.

Welche Rolle spielen kommunale Handelsbeziehungen in der Entwicklungspolitik?

Dr. Angelika Kordfelder: Spätestens seitdem uns das Thema Covid-19 erwischt hat, wissen wir, dass in dieser Welt alles mit allem zusammenhängt. Länder wie China und Brasilien sind nicht mehr weit etfernt, und wir haben eine Verpflichtung, auf die gesamte Welt zu gucken. Die politischen Vertreterinnen und Vertreter vor Ort wissen um diese Zusammenhänge. Bei der Bevölkerung sollte das spätestens zu dem Zeitpunkt angekommen sein, als klar war, dass viele Medikamente oder der Mundschutz aus China geliefert werden und es auf Grund dessen Verzögerungen im Handel gegeben hat. Außerdem ist jetzt im Zusammenhang mit dem Lieferkettengesetz sehr viel darüber gesprochen worden, wie diese Lieferketten tatsächlich aussehen, zum Beispiel in der Textilindustrie. Und es ist deutlich geworden, dass wir uns auch in dem Zusammenhang dafür einsetzen müssen, zu einer gerechten und auf Dauer überlebensfähigen Gesamtwelt zu kommen.

Inwieweit sind diese internationalen Verflechtungen auch für die Kommunen relevant?

Dr. Stefan Wilhelmy: Ich finden diesen Aspekt spannend, den Frau Dr. Kordfelder eingebracht hat. Es ist ein leistungsfähiger Weltmarkt entstanden, der eine hohe Versorgung der Bevölkerung mit allen möglichen Dienstleistungen und Produkten zu oft extrem günstigen Preisen mit sich bringt. Das hat aber auch Konsequenzen, nämlich - das Thema Textil wurde schon angesprochen – dass diese zum großen Teil unter unwürdigen Bedingungen hergestellt werden, zu Löhnen, die nicht ausreichend für eine Grundversorgung der Menschen sind. Man muss auch da den gesamten Kreislauf sehen.
Wir sehen das auch beim Thema Digitalisierung, das momentan sehr positiv diskutiert wird. Die flächendeckende Versorgung mit Laptops und Smartphones erfordert aber auch viele Ressourcen, die unter teilweise katastrophalen Bedingungen in Ländern des Globalen Südens abgebaut werden. Und es handelt sich dabei um endliche Ressourcen. Das trifft sicherlich auch auf den Bereich der Elektromobilität zu, der unter Klimagesichtspunkten sehr positiv gesehen wird, aber auch mit großen Umweltbelastungen einhergehen kann, wenn wichtige Komponenten wie Akkus nicht nachhaltig produziert und am Ende einer ordnungsgemäßen Wiederverwendung zugeführt werden.
Und einen Aspekt, den auch Frau Dr. Kordfelder schon angesprochen hat, finde ich ganz zentral: Wo profitieren wir von diesen globalen Verflechtungen und wie viele regionale Wirtschaftskreisläufe braucht es daneben? Es ist aus meiner Sicht äußerst bedenklich, dass ein hochentwickeltes Land wie Deutschland nicht in der Lage war, so etwas Einfaches wie Mundschutzmasken herzustellen. Jedenfalls hat es ja eine ganze Weile gedauert, bis das überhaupt möglich wurde. Und das zeigt, in welche starke Abhängigkeit man sich längst begeben hat. Ich glaube, auch Kommunalvertreterinnen und -vertreter stellen sich derzeit die Frage, wie man Strukturen vor Ort aufstellen kann, um genau diese Schocks besser zu bewältigen.

Dr. Angelika Kordfelder: Ja, es ist das eine, zu überlegen, wie man als Kommune und Land handlungsfähig bleibt. Es wird aber auch deutlich, wie bedeutsam internationale Beziehungen sind. Das ist vor allem in der momentanen Corona-Situation allen klargeworden. Es ist wichtig, dass sich Kommunen international einbinden, zum Beispiel auf europäischer Ebene durch den RGRE (Rat der Gemeinden und Regionen Europas) und das CEMR (Council of European Municipalities and Regions), oder weltweit durch den UCLG (United Cities and Local Governments).

Wie können deutsche Kommunen von einem Austausch mit Kommunen im globalen Süden profitieren, wenn es um die Bewältigung von aktuellen und zukünftigen Herausforderungen, wie zum Beispiel Pandemien, geht?

Dr. Angelika Kordfelder: Hier kann ich auf die besondere Bedeutung von Städtepartnerschaften verweisen. Dabei geht es um die Sensibilisierung unterschiedlicher Lebensverhältnisse, und darum, deutlich zu machen, was eigentlich wichtig ist, um gut leben zu können? Wie wichtig ist Bildung? Oder das Gesundheitswesen? Und was bedeuten eigentlich Frieden und Gerechtigkeit? Das wird hier immer als so selbstverständlich angesehen und ist in anderen Staaten eben nicht so.

Dr. Stefan Wilhelmy: Ich versuche mal, zu ergänzen. Wir erleben in den unterschiedlichsten Bereichen, dass es in Partnerschaften auf Augenhöhe natürlich um gegenseitiges Lernen geht. Ich möchte den Aspekt Klima, bzw. Klimaschutz und Klimaanpassung herausgreifen. Gerade die Süd-Partner, die Kommunen in den Partnerländern, sind leider schon jetzt viel stärker vom Klimawandel betroffen. Das heißt, sie sammeln auch viel früher schon Lernerfahrung und Know-how, zum Beispiel beim Hochwasserschutz. Davon können deutsche Kommunen profitieren. Partner im Süden haben häufig auch viel mehr Erfahrung damit, globale Ziele, wie die SDGs umzusetzen, oder mit Rahmensetzungen umzugehen. Das hat natürlich auch viel mit einer internationalen Geberstruktur zu tun, aber sie wissen, dass man solche global gesetzten Ziele in kommunales Handeln umsetzen und die Bevölkerung mitnehmen muss. Süd-Kommunen können auch diese Erfahrung an die deutschen Kommunen weitergeben. Es geht immer darum, die eigenen Erfahrungen in internationale Diskurse einzubringen und zu schauen, was auch in der eigenen Kommune gut funktionieren könnte.

Wo liegen denn die besonderen Hebel von Kommunen als entwicklungspolitische Akteure?

Dr. Angelika Kordfelder: Kommunen sind der unmittelbare Lebensort von Menschen. Die kommunale Vertretung ist dabei die Servicestelle vor Ort, die zur Information und zur Bewusstseinsbildung für Nachhaltigkeit beitragen kann. Und wenn die Kommune ihre Akteurinnen und Akteure vor Ort unterstützt, dann kann das wirklich einen guten Lauf nehmen. Wichtig ist auch die Vorbildfunktion der Person, die das Bürgermeister- oder Oberbürgermeisteramt bekleidet, und das Thema selbst vorantreibt. Und fast alle Städte oder Kommunen haben schon bestehende Städtepartnerschaften und Kontakte in den Netzwerken von Kirchengemeinden oder Schulen. Ich würde immer bei diesen bestehenden Stärken beginnen und daran weiterarbeiten.

Herr Dr. Wilhelmy, können Sie weitere Hebel nennen?

Dr. Stefan Wilhelmy: Das Thema Vorbildfunktion wollte ich auch noch mal unterstreichen. Es gibt einerseits den unmittelbaren Handlungsbereich der Kommune, z.B. den Bereich der Beschaffung, aber auch im Bereich Klima und Energieversorgung, wo man als Kommune die Rahmenbedingungen für die eigenen Bürgerinnen und Bürger setzt, und gleichzeitig diese und die lokale Wirtschaft ermutigt entsprechend selber vorzugehen. Das gilt meines Erachtens auch sehr stark für das Thema Diversität. Wenn ich mich als Verwaltung öffne und die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen und -schichten auch intern widerspiegle, ist das sicherlich eine wichtige Vorbildfunktion auch für andere Akteure vor Ort, insbesondere aus der Wirtschaft.
Außerdem spricht man heute ja oft von Reallaboren. Kommunen sind das schon seit ewigen Zeiten. Man kann im kommunalen Bereich sehr viel mehr sehr viel schneller ausprobieren, als auf anderen politischen Ebenen. Wenn es eine mutige Verwaltung und eine Stadtspitze gibt, die klar nach vorne gehen und offen für neue Lösungsansätze sind, dann können Kommunen über die Partnerschaften und Netzwerke gute Lösungen ganz schnell auch in die Breite bringen, und zwar weltweit.

Es engagieren sich schon viele Kommunen entwicklungspolitisch. Mal auf den Punkt gebracht: Warum sollen sich Kommunen denn überhaupt engagieren?

Dr. Angelika Kordfelder: Letztendlich geht es um unser aller Überleben! Man muss über den eigenen Tellerrand hinweg schauen, das weiß mittlerweile auch jeder. Und nochmal zum Thema Städtepartnerschaft: Es macht auch Spaß! Es ist so bereichernd, mit unterschiedlichen Kulturen zusammenzukommen, unterschiedliche Mentalitäten, Lebens- und Essgewohnheiten kennenzulernen. Und zu merken, dass wir als Menschen doch alle gleiche Bedürfnisse haben, dass wir eine Familie haben wollen, dass die Kinder gut aufwachsen sollen, dass wir vernünftig wohnen und in Frieden alt werden wollen. Und wenn diese Grundbedürfnisse gut befriedigt sind, kann es auch eine gute Annäherung und Zusammenarbeit geben. Ich glaube, deswegen sollte man sich für die globale Welt einsetzen.

Und was würden Sie beide den Kommunen empfehlen, die jetzt den Einstieg in entwicklungspolitisches Engagement wagen wollen?

Dr. Angelika Kordfelder: Ich würde empfehlen, Schritt für Schritt vorzugehen und bei jenen Dingen anzuknüpfen, die man vor Ort schon findet. Ob das jetzt der Eine-Welt-Laden ist oder andere Vereine, die sich der Nachhaltigkeit verschrieben haben. Letztendlich kann die Kommune auch in ihrem eigenen Unternehmen, also sowohl in der Kernverwaltung also auch in den Beteiligungsgesellschaften, so viel machen.

Dr. Stefan Wilhelmy: Die Botschaft von Frau Dr. Kordfelder kann ich nur unterstreichen. Man fängt nicht bei null an, es gibt viele gute Beispiele und Vorbilder. Man hat vor Ort in der Regel ganz viel, auf das man aufbauen kann. Tauschen Sie sich mit Kolleginnen und Kollegen auf der kommunalen Ebene aus. Auf jeden Fall nicht entmutigen lassen von der Größe der Aufgabe, sondern einfach anfangen und dann finden sich auch Wege.

Frau Dr. Kordfelder, haben Sie zum Abschluss des Gesprächs eine abschließende Botschaft für Vertreterinnen und Vertreter aus den Kommunen und die Zivilbevölkerung?

Dr. Angelika Kordfelder: Das Thema ist schon länger in den Kommunen angekommen. Weil eine große Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement in der Bevölkerung zu sehen ist, braucht es vor allem hauptamtliche Unterstützung, Beratung zum Thema Engagement-Förderung und zusätzlich die Entwicklung einer Anerkennungskultur für das Ehrenamt. Ich kann allen Kommunen nur empfehlen, über den Tellerrand hinweg zu schauen und sich zu vernetzen. Das ist gut für die eigene Wahrnehmung und Sensibilisierung, und für den Informationstransfer. Ich würde den Kommunen raten, Städte- und Themenpartnerschaften weiter zu fördern, und die Unterstützung der SKEW und Engagement Global insgesamt, sowie vom Land und Bund entsprechend anzunehmen. Die Fördermöglichkeiten sind unglaublich groß und man kann ordentlich was machen. Man muss es nur tun.