Passt denn das Konzept gesellschaftlicher Zusammenhalt in Kommunen weltweit in die Art und Weise, wie wir wirtschaften und leben? Das kapitalistische System führt dazu, dass sich die soziale Ungleichheit – das konnten wir in den letzten drei Jahrzehnten gut beobachten – weltweit verschärft. Funktioniert gesellschaftlicher Zusammenhalt in diesem Kontext?
Kevin Borchers: Der Klimawandel oder auch ein ungerechtes Wirtschaftssystem sind nun mal Fakt und seit längerem bekannt. Die Veröffentlichung „Grenzen des Wachstums“ vom Club of Rome etwa ist 50 Jahre alt geworden und immer noch aktuell. Wobei eine zentrale Kritik an dem Bericht war, dass menschliches Verhalten als wichtiger Faktor nicht genügend mit einbezogen wurde. Hier kann der gesellschaftliche Zusammenhalt ansetzen. Veränderungsprozesse umzusetzen ist nicht leicht und es braucht Menschen, die gemeinsam an Lösungen arbeiten, die gemeinsam neue Wege gehen. Dafür braucht es zunächst einen Austausch zwischen Menschen, gerade zwischen jenen, die nicht einer Meinung sind. Eine Voraussetzung ist eine stabile, breite Interaktion von Kommunalverwaltung, -politik und den Bürgerinnen und Bürgern.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist ein großer Bereich mit vielen unterschiedlichen Themen, bei denen angesetzt werden kann. Bürgerbeteiligung und Partizipation, gute lokale Regierungsführung und kommunale Daseinsvorsorge, um nur einige zu nennen.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist eine wichtige Basis, um diese Herausforderungen jetzt anzugehen.
Welche Stellschrauben haben denn die Kommunen, um gesellschaftlichen Zusammenhalt bei sich und vielleicht auch mit ihren Partnerkommunen zu stärken? Ist das nicht eine Aufgabe, die viel zu groß ist für Kommunen?
Kevin Borchers: Nein. Eine Kommune ist ein Mosaikstein in einem Großen und Ganzen und gesellschaftlicher Zusammenhalt ein Thema, an dem Kommunen weltweit gleichermaßen arbeiten müssen. Die Kernfragen sind dabei die gleichen: Was kann getan werden, um Bürgerinnen und Bürger in kommunale Entscheidungsprozesse einzubeziehen? Wie werden öffentliche Orte so gestaltet, dass Menschen ins Gespräch kommen und Spannungen abgebaut werden? Wie kann die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft gestärkt werden?
All das sind Themen, die auch entwicklungspolitisch relevant sind und sich eignen für einen internationalen Austausch zwischen deutschen Kommunen und Kommunen aus dem Globalen Süden.
Wer sind denn die weiteren Akteure in Zukunft im neuen Handlungsfeld?
Kevin Borchers: Im Grundsatz geht es immer noch darum, potenzielle Akteure der Entwicklungspolitik vor Ort zu finden und mit den Kommunen zu vernetzen. Zusätzlich zu migrantischen Organisationen und entwicklungspolitischen Vereinen können Bildungseinrichtungen oder Wirtschaftsakteure hier mit einbezogen werden. Auch innerhalb der Kommunalverwaltung werden wir zum Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt weitere zuständige Bereiche ansprechen als zum Thema Migration und Entwicklung. Neben Integration oder Internationales können das auch die zuständigen Stellen für Klima, Stadtplanung, Gender und andere dabei sein. Der Kreis innerhalb und außerhalb der Kommunalverwaltung wird sich erweitern.
Gibt es schon Ideen oder Ansätze, mit welchem Werkzeugkoffer Sie die Kommunen dabei unterstützen wollen?
Kevin Borchers: Es wird darum gehen, dass deutsche Kommunen ihre Strategien, die sie vor Ort für den gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzen auch für die Umsetzung der Agenda 2030 nutzen. Gleichzeitig kann die Gestaltung der kommunalen Entwicklungspolitik unter Einbezug vieler verschiedener Akteure dazu beitragen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt vor Ort zu stärken. Hier bieten wir Methoden, die bereits im Handlungsfeld „Migration und Entwicklung“ zum Tragen kamen: Wir ermöglichen eine Prozessbegleitung zur Einbindung verschiedener Akteure vor Ort, wir machen mit dem Wettbewerb „Kommune bewegt Welt“ das gemeinsame Engagement sichtbar und bieten Netzwerkformate zum kollegialen Austausch. International sind wir nun in der Lage, Kommunen aus Deutschland sowie Kommunen aus dem Globalen Süden in einen Austausch zu Methoden, Strategien und Themen des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu bringen.
Zum einen möchten wir eine internationale Lerngemeinschaft anbieten, bei der sich eine kleine Zahl von Kommunen vertieft und über einen längeren Zeitraum zu einem ganz bestimmten Thema des gesellschaftlichen Zusammenhalts austauscht. Zum anderen möchten wir auch international ein offenes Netzwerk etablieren, wo sich Kommunen aus Deutschland und dem Globalen Süden informieren und kollegial beraten können. Drittens begleiten wir Kommunen, sich über Fachforen und Konferenzen als Akteure der Entwicklungspolitik in den internationalen Diskurs zu Themen des gesellschaftlichen Zusammenhalts einzubringen. Viertens werden wir deutsche Kommunalverwaltungen, die Migrantinnen und Migranten Praktika zum Thema gesellschaftlicher Zusammenarbeit anbieten, unterstützen. Diese Qualifizierung kann auch eine Rückwirkung auf die Herkunftsländer entfalten.
Was wäre für Sie ein gutes Zukunftsszenario? Wo möchten Sie in vier, fünf Jahren gerne stehen?
Kevin Borchers: „Gesellschaftlicher Zusammenhalt als entwicklungspolitisches Thema ist etabliert“. Das wäre ein großes Ziel. Die entwicklungspolitische Dimension gesellschaftlichen Zusammenhalts wird oft noch nicht gesehen, auch nicht als Querschnittsthema.
Eigentlich wollten wir uns das Thema unter anderem im Rahmen des deutsch-ukrainischen Städte-Netzwerks der SKEW erschließen und dort mit einer internationalen Lerngemeinschaft starten. Die aktuelle Situation dort hat uns einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht.
Nichtsdestotrotz: Guter gesellschaftlicher Zusammenhalt kann dazu beitragen, globalen Herausforderungen aktiv zu begegnen und ist eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung der Agenda 2030.