Der schottische Philosoph David Hume hat einmal gesagt: „Nicht die Vernunft ist die Richtschnur des Lebens, sondern die Gewohnheit.“ Warum fällt es uns so schwer, trotz besseren Wissens unser Verhalten zu ändern?
Karen Hamann: Das ist auf jeden Fall ein sehr schönes Zitat. Es drückt aus, wie Menschen sehr häufig handeln. Wenn es um Gewohnheiten geht, müssen wir uns immer vor Augen führen, dass sie auch irgendwann entstanden sind. Und zu einem gewissen Zeitpunkt war es wahrscheinlich auch unsere Vernunft, die uns zu der Gewohnheit geführt hat. Aber die Motivation zu dem Zeitpunkt, zu dem sich die Gewohnheit aufgebaut hat, ist nicht unbedingt die Motivation, die man zum aktuellen Zeitpunkt hat. Das sieht man gerade im Umwelt- und Klimaschutz: Erst mit der Zeit wurden wir über gewisse Dinge aufgeklärt, wie zum Beispiel, dass vegane Ernährung umweltschonender ist als Fleisch zu essen. Die Gewohnheit Fleisch zu essen, ist aber schon da. Und alles, was diese Gewohnheit umkreist, ist immer noch gleich: Die sozialen Einflüsse, die auf mich einwirken – wie zum Beispiel welches Handeln andere von mir erwarten, oder die Restaurants, in denen ich gerne essen gehe. Das hat sich alles um diese Gewohnheit herumgebaut und macht es für mich schwieriger, aus der Gewohnheit auszubrechen.
Auch wenn die Vernunft ein anderes Handeln will und wir schon eine Intention dazu haben, dann heißt das nicht gleich, dass wir unser Verhalten auch ändern können, weil es viele Barrieren gibt, sowohl physische, aber auch viele soziale und psychologische Barrieren.
Vor 50 Jahren wurden die Grenzen des Wachstums des Club of Rome veröffentlicht. Und vor 30 Jahren gab es die erste Klimaschutzkonferenz in Rio. Spätestens da war schon klar, dass der CO2-Ausstoß eine entscheidende Rolle beim Klimawandel spielt. Trotzdem hatte man das Gefühl, das ist nur für Klimaforscherforscherinnen und Umweltaktivisten interessant. Niemand fühlte sich davon persönlich angesprochen. Sind wir überhaupt in der Lage, bei einem so abstrakten Thema auch noch weit in die Zukunft zu schauen und 10, 20, 30 Jahre für die nächste Generation im Voraus zu planen und darauf unser Handeln abzustimmen?
Karen Hamann: Es gibt den Fachterminus der „psychologischen Distanz“, die beschreibt, dass sich Konsequenzen nah dran oder weit weg von uns anfühlen können. Sie kann sowohl geographisch als auch zeitlich verstanden werden. Psychologische Distanz ist eine Ursache, warum wir nicht jetzt schon handeln, um Klimaprobleme zu verringern, die zukünftig oder jetzt schon an anderen Orten der Welt auftreten. Jedoch gibt es aus der Wissenschaft auch uneinheitliche Befunde, die zeigen, dass unter gewissen Umständen trotz verringerter psychologischer Distanz keine Handlungsmotivation entsteht. Psychologische Distanz sollte also nicht als die einzige relevante Ursache, warum wir nicht handeln, angesehen werden.
Zum Beispiel werden wir Menschen von unseren kurz- und mittelfristigen Plänen getrieben, aber auch von den Werten, die wir mit uns tragen. Werte wie Umweltschutz, aber auch sozial ausgerichtete Werte können zielgebend und handlungsleitend sein. In der Psychologie nennen wir das dann biosphärische und altruistische Werte, die anderen Werteausrichtungen gegenüberstehen, zum Beispiel egoistischen und hedonistischen – also eigennützigen und auf Genuss ausgerichteten – Werten. Unsere Werte ermöglichen es uns, auch über abstrakte Themen nachzudenken, indem sie gewünschte Zukunftszustände in das Hier und Jetzt holen.
"Es ist möglich, im Nachdenken über den Klimawandel durch den Aufbau von Visionen ins Handeln zu kommen."
Zukunftspläne für den Klimaschutz lassen sich auch als Visionen von einer nachhaltigen Welt verstehen. Und das ist ein Forschungsstrang, der gerade dabei ist, sich zu entwickeln. Es gibt erste Indizien, dass Visionen handlungsleitend sein können, insbesondere wenn sie hervorheben, dass auch Menschen in dieser Vision moralischer und gemeinschaftlicher handeln.
Es ist aber gar nicht so einfach, in visionäres Denken reinzukommen, wenn man das nicht gewohnt ist. Klimaaktivisten und -aktivistinnen begründen ihre Motivation vielleicht darauf, dass sie vor ihrem inneren Auge sehen, wie eine Stadt ohne Autos gestaltet sein könnte, die wesentlich grüner und komplett über erneuerbare Energien strukturiert ist. Aber wenn man sich nicht in einem Nachhaltigkeitskontext bewegt, scheint es gar nicht so einfach zu sein, dass sich diese Visionen ausbilden. Konkrete Beispiele, wie die fast autofreie Innenstadt von Groningen, zeigen, dass eine andere Welt möglich ist und können auch helfen, Visionen für den eigenen Kontext zu entwickeln.
Es ist also insgesamt möglich, im Nachdenken über abstrakte Themen wie den Klimawandel durch reduzierte psychologische Distanz, durch umweltschützende Werte oder durch den Aufbau von Visionen ins Handeln zu kommen.
In den letzten drei Jahren haben wir in Deutschland eine Corona-Pandemie, zwei Dürre-Sommer und eine Flutkatastrophe an Ahr und Erft erlebt. Seit über drei Monaten tobt der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. Werden aus Ihrer Sicht diese historischen Einschnitte das kollektive Bewusstsein für ein gemeinsames Handeln hin zu einer solidarischeren und klimagerechteren Welt spürbar steigern oder im Gegenteil, emotionsorientierte Bewältigungsstrategien wie Rückzug, Gleichgültigkeit, Vergnügungs- und Konsumorientierung weiterbefördern?
Karen Hamann: Das ist sehr schwer einzuschätzen und es ist sicherlich nicht nur das eine oder das andere, sondern eine Mischung aus beidem. Die Frage ist: „Was ergibt diese Mischung?“ Wenn wir uns den Klimaschutz anschauen, dann ist eine der wichtigen Motivationen, dass man gemeinschaftlich davon ausgeht, eine Krise meistern zu können, also zum Klimaschutz beitragen zu können. Und dass man selbst im besten Fall auch eine wichtige Rolle für dieses Engagement spielt. Diese wahrgenommene Handlungsfähigkeit ist wichtig, damit wir überhaupt ins Handeln kommen. Wenn wir glauben, wir können nichts erreichen, dann werden wir auch gar nicht erst anfangen, zu handeln. Und dann werden wir möglicherweise auch versuchen, unsere Gedanken in der Art und Weise zu ändern, dass wir die Verantwortung auf andere schieben, weil wir glauben, dass wir ja selbst gar nichts zur Lösung des Problems beitragen können.
Beim Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine sind viele Menschen, zumindest in meinem Umfeld, davon berührt, wie gemeinschaftlich gehandelt wurde. Und das ist eine Handlungsfähigkeit, die sich eventuell auch auf andere Krisen übertragen lässt. Eventuell steigert dies das Gefühl, dass wir auch gemeinsam etwas gegen die Klimakrise tun können. Aber Krise ist nicht gleich Krise. Das Private und das Politische ist in der Klimakrise sehr verwoben, während beim Angriffskrieg von Russland wesentlich stärker die politische Ebene gefragt zu sein scheint.
"Zumindest persönliche Krisen sind aus psychologischer Sicht erst mal nichts Schlechtes."
Gleichzeitig erlebe ich bei diesen Krisen mit verschiedenen Umwelt-NROs, dass auch für sie sehr viele Schwierigkeiten zusammenkommen. Mit je mehr Krisen wir es zu tun haben, desto geringer ist die Aufmerksamkeit, die auf die Klimakrise gelenkt wird, obwohl das eine Krise ist, die höchstwahrscheinlich alle anderen Krisen wiederum sehr stark beeinflussen wird.
Zumindest persönliche Krisen sind aus psychologischer Sicht erst mal nichts Schlechtes. Änderungen in Zeiten von Krisen, sowohl positive als auch negative, wie beispielsweise im Lebenslauf eines Menschen die Geburt eines Kindes oder der Umzug in eine neue Stadt, sind immer große Chancen, neue Gewohnheiten aufzubauen und sein Leben wieder stärker an den eigenen Überzeugungen auszurichten. Gleichzeitig wäre ich sehr vorsichtig, nur die Chancen von diesen politischen Krisen zu betonen, weil sie im aktuellen Moment für sehr viele Menschen sehr viel Leid verursachen.
Müssen wir vielleicht ein bisschen experimenteller an die Gegenwart und Zukunft rangehen? Wir Deutschen planen schon sehr gerne. Andere Kulturen sind da wesentlich flexibler und haben auch eine andere Fehlerkultur. Brauchen wir nicht eine andere Philosophie des Handelns?
Karen Hamann: Ja, ich kann mir gut vorstellen, dass ein experimenteller Ansatz beim gesellschaftlichen Wandel sehr sinnvoll sein könnte, weil wir gerade in den letzten Jahren gesehen haben, wie wenig wirklich planbar ist. Kleinere Experimente können besser an die Umstände angepasst werden, während große Pläne schwieriger zu verändern sind. Gleichzeitig benötigen wir feste Klimaverträge, die feste Zahlen setzen, an denen man sich dann mit den experimentellen Bemühungen orientieren kann. Gerade in der Forschung gibt es den Trend zu Reallaboren – nicht nur im Elfenbeinturm zu forschen, sondern in der realen Welt Prozesse zu begleiten und zu fördern; eventuell Orte zu schaffen, an denen Wandel stattfinden kann und das wissenschaftlich zu begleiten. Das ist ein schöner Trend.
Für mich ist die Grundfrage, wie wir jetzt auf diese Krisen reagieren: ob wir irgendwann anfangen, abzustumpfen?
Karen Hamann: Das kann man, während man sich noch in Krisen befindet, sehr schwer vorhersagen.
Es ist wichtig, dass Menschen den Raum haben, darüber zu reflektieren, wie sie gerade mit Krisen umgehen. Erst dann haben sie auch die Möglichkeit, sich zu entscheiden: „Bin ich eigentlich gerade dabei, das die ganze Zeit von mir wegzudrücken, obwohl es mich emotional sehr bewegt?“ Es ist wichtig, Räume zu schaffen, in denen diese Emotionen auch einfach mal geteilt werden können, sodass wir in einen Modus kommen können, in dem wir die Probleme selbst oder auch als Gruppe angehen möchten. Aber diese Räume fehlen mir in unserer Gesellschaft auf jeden Fall noch und könnten im Zuge künftiger Reallabore entstehen.
Was sind aus Ihrer psychologischen Sicht die wichtigsten Stellschrauben, um in der Mehrheit der Deutschen in den kommenden Jahren das kreative Potential für eine „Zukunftskunst“ zu wecken – wie es das Wuppertal Institut ausdrückt – um die Industrie-, Energie- und Mobilitätswende, die Konsum- und Ernährungswende mit Nachdruck anzugehen und unsere Kommunen nachhaltiger zu gestalten? Wie werden wir Handelnde aus Überzeugung?
Karen Hamann: Wenn wir die Mehrheit der Menschen motivieren wollen, ist einer der wichtigsten Aspekte, dass Maßnahmen an den Bedürfnissen der Menschen orientiert sind und ihre eigentlichen Lebensrealitäten berücksichtigen. Es gibt nach der Selbstbestimmungstheorie drei zentrale psychologische Bedürfnisse: Das ist einmal das Bedürfnis nach Kompetenz, das Bedürfnis nach Autonomie und das Bedürfnis nach Beziehung und Verbundenheit mit anderen. Und diese drei Bedürfnisse sollten in all den Transformations-Maßnahmen, die wir uns gerade überlegen, mitgedacht werden. Es gibt viele Menschen mit Lebensrealitäten, die aktuell sehr schwer mit einem ökologischen Lebensstil vereinbar sind. Wie können wir sie genau dort abholen? Wir müssen ein psychologisches Feingefühl dafür entwickeln, was wir Menschen brauchen und die Offenheit, Menschen auch zu fragen, was sie gerne hätten.
"Damit eine Transformation gelingen kann, soll die Verantwortung nicht ausschließlich auf Individuen geschoben werden."
Ein zweiter Punkt ist eine motivierende Kommunikation über Umweltthemen. Hier sollten wir aufpassen, nicht nur egoistische Werte zu betonen: „Wenn du dich klimaschützend verhältst, dann hat das ganz viele Vorteile für dich, finanziell, gesünder, agiler“ und so weiter. Wenn wir nur diese Bedürfnisse betonen, dann werden in dem Menschen, den wir am Ende dabei motivieren, natürlich auch egoistische Motive gestärkt – die wiederum einem nachhaltigen Lebensstil entgegenwirken können. Das heißt, es ist sehr sinnvoll, in Kampagnen und in persönlichen Gesprächen immer mitzubetonen, dass es uns eigentlich um das große Ziel des Klimaschutzes und der Gerechtigkeit für die nächsten Generationen geht – für andere Menschen auf diesem Planeten, die in Regionen wohnen, die stärker vom Klimawandel betroffen sind. Das ist eine wichtige Message.
Was mir dabei wichtig ist: Damit eine Transformation gelingen kann, soll die Verantwortung nicht ausschließlich auf Individuen geschoben werden. In dem Projekt, in dem ich jetzt gerade arbeite, geht es um Energie in Bürgerhand. Wir arbeiten daran, ein Verständnis davon zu entwickeln, wo primär Regierungen in die Verantwortung genommen werden und wo aber eine gewisse Verantwortung bei den Menschen selbst liegt.
Wir befinden uns alle in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem wir ständig mit unseren eigenen Dissonanzen zu kämpfen haben, weil wir eigentlich selbst gerne anders handeln würden als wir es gerade tun. Das muss politisch in den Blick genommen werden und deswegen müssen sich sowohl Strukturen als auch die Individuen in diesen Strukturen ändern.
Braucht es eine neue Generation, die sich von vornherein andere Gewohnheiten zulegt und auch konform in der Lage ist, die „richtigen“ Ziele zu verfolgen? Max Planck hat mal gesagt: „Eine neue wissenschaftliche Erkenntnis setzt sich nicht dadurch durch, dass man die Vertreter der alten wissenschaftlichen Theorie überzeugt, sondern dadurch, dass eine neue Generation von Wissenschaftlern heranwächst, die von vornherein mit diesen neuen Erkenntnissen in Berührung kommt“. Aber haben wir dafür die Zeit?
Karen Hamann: Ich sehe kein Problem darin, dass man einen Teil seiner persönlichen Hoffnung auf den nächsten Generationen gründet. Wenn man sich zum Beispiel die Ernährungsgewohnheiten und viele andere Gewohnheiten von jüngeren Menschen ansieht, sieht man einen gewissen Wandel stattfinden. Die nächste Generation scheint im Privaten viel transformationsorientierter und auch gewillt, politisch mitzugestalten.
"Wir können nicht die Verantwortung auf nächste Generationen aufladen."
Gleichzeitig sind wir in dem Dilemma: Wir haben nicht die Zeit. Das heißt, die Menschen, die jetzt auf der Erde leben und vor allem in Entscheidungspositionen sind oder über Geld verfügen, das sie in nachhaltige Zwecke investieren können, müssen jetzt unbedingt handeln, damit sich gesamtgesellschaftliche Strukturen verändern. Das heißt, es gibt diesen Druck. Wir können nicht die Verantwortung auf nächste Generationen aufladen. Trotzdem können wir Handlungsmotivation daraus schöpfen. Zum Beispiel kann es motivieren und richtungsgebend sein, wenn man den Blick auf die nächsten Generationen lenkt und denkt: „Okay, die werden anders sein, die wollen was anderes. Dann versuche ich jetzt, auch meinen Beitrag in meiner eigenen Generation zu leisten, um ihnen das Leben zu ermöglichen, das sie gerne auf dieser Welt hätten.“
Ein Interview von Burkhard Vielhaber