Auch heute noch gibt es Formen von Sklaverei und Zwangsarbeit. Warum ist diese noch nicht beseitigt?
Tina Haupt und Uwe Kleinert: Auch heute noch sind Männer, Frauen und Kinder auf der ganzen Welt Opfer moderner Sklaverei. Sie werden auf öffentlichen Märkten ge- und verkauft, gegen ihren Willen verheiratet, unter dem Deckmantel der „Heirat“ als Arbeitskräfte missbraucht. Sie werden gezwungen, in geheimen Fabriken mit dem Versprechen einer Entlohnung zu arbeiten, die ihnen aber immer wieder vorenthalten wird. Sie schuften auf Baustellen, in Läden, auf Bauernhöfen oder in Häusern als Dienstmädchen. Nach Angaben der Walk Free Foundation waren 2016 schätzungsweise 40,3 Millionen Männer, Frauen und Kinder Opfer moderner Sklaverei, 24,9 Millionen von ihnen in Zwangsarbeit und 15,4 Millionen in einer Zwangsehe. Frauen und Mädchen sind stark überrepräsentiert und machen 71 Prozent der Opfer aus. Besonders verbreitet ist moderne Sklaverei in Indien (mit mehr als 18 Mio. versklavten Menschen) sowie China (3,14 Millionen) und Pakistan (2,1 Millionen). Aber auch in den Industrieländern leben insbesondere Frauen als Zwangsprostituierte unter Sklaverei ähnlichen Umständen.
Die Gründe dafür, dass bestimmte Formen der Sklaverei noch immer existieren, sind vielfältig. Menschen kennen beispielsweise ihre Rechte nicht und wissen nicht, wie sie diese einfordern können. Das kann aufgrund fehlender Bildung der Fall sein oder weil sie als Migrantinnen und Migranten oder Geflüchtete in ein fremdes Land gekommen sind und die Sprache nicht verstehen. Oft wird jegliche Form von Zusammenschluss der Arbeitenden unterbunden, um das Entstehen von Gewerkschaften zu verhindern. Ein weiteres Problem sind fehlende Kontrollen geltender Gesetze. Selbst wenn Zwangs- und Kinderarbeit in einem Land verboten sind, garantieren erst effektive Kontrollen mit Sanktionen die Einhaltung der Standards.
Wird in Deutschland – privat oder als öffentliche Beschaffungsstelle – Naturstein eingekauft, der aus Zwangsarbeit stammt?
Der Trend in der Naturstein-Gewinnung und -verarbeitung geht von der Handarbeit zur industriellen Fertigung. Dadurch nimmt zumindest die Präsenz der Kinderarbeit in Steinbrüchen ab. Sowohl China als auch Indien, die Hauptexporteure von Natursteinen, verfügen über Steinbrüche, die vom Arbeitsstandard mit deutschen oder europäischen Steinbrüchen vergleichbar sind. Von Steinbruch zu Steinbruch sowie zwischen den Verarbeitungsbetrieben gibt es aber große Unterschiede.
Vor allem für Steine aus Indien ist Kinderarbeit nicht völlig auszuschließen. Häufig sind Familien auf ein zusätzliches Einkommen der Kinder angewiesen. Auch die Modernisierung von Betrieben ist kein Garant für die Beendigung von Kinderarbeit. Eine Ursache ist die oben beschriebene Schuldknechtschaft, welche auch auf Kinder übertragen wird. Aber auch die Arbeitsbedingungen für erwachsene Arbeiter*innen sind alles andere als akzeptabel: niedrige Löhne unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns, unsichere und ungesunde Arbeitsbedingungen durch hohe Staubbelastung, fehlende Sicherheitsmaßnahmen, extreme Temperaturen und ein Mangel an Trinkwasser.
Die Situation in China, dem größten Anbieter auf dem deutschen Markt, ist besser. Doch auch in vielen chinesischen Unternehmen gibt es erhebliche Missstände, die denen in Indien ähneln. Schwere körperliche Arbeiten werden auch hier meist ohne angemessene Schutzkleidung ausgeübt und die Lebenserwartung liegt aufgrund der tödlich verlaufenden Lungenkrankheit Silikose, die durch eine kontinuierlich hohe Staubbelastung ausgelöst wird, bei nur 40 Jahren. Zudem werden indische Steine teils in China weiterverarbeitet und kommen so als chinesisches Material zu uns.
Der Handel mit Naturstein erstreckt sich über den gesamten Globus. Das macht es für private Verbraucher aber auch öffentliche Beschaffungsstellen sehr schwierig, Zwangs- oder Kinderarbeit auszuschließen. Baumärkte bieten nur selten zertifizierte Ware an, Kommunen entscheiden bei der Beschaffung beziehungsweise dem Bau mit Natursteinen zu oft nach dem Preis.
Im September 2020 fand die Fachkonferenz „Natursteine aus verantwortlichen Lieferketten“ in Stuttgart statt, im Vorfeld wurde mit einer Studie die aktuelle Situation der öffentlichen Beschaffung von Naturstein untersucht. Was haben die Studie und die Konferenz an neuen Erkenntnissen gebracht?
Für die Beschaffung von Natursteinen ist vor allem das Bauwesen relevant. Zahlen über den Anteil von Beschaffungen und Bauinvestitionen, bei denen Natursteine verbaut wurden, liegen nicht vor. Die Rückmeldungen aus den durchgeführten Interviews in der Studie von Ajit Thamburaj und Juliane Kühnrich mit Kommunen in Baden-Württemberg, Landes-und Bundesbehörden legen nahe, dass der größte Teil der Beschaffungen von Natursteinen im Tiefbaubereich stattfindet.
Für Beschaffungen auf Bundesebene ist das Standardleistungsbuch Bau (STLB-Bau) sehr relevant als Vorlagensammlung für die Erstellung von Leistungsbeschreibungen. Soziale oder ökologische Aspekte werden im STLB-Bau jedoch gar nicht angesprochen. Die Studie hat hier sowie an weiteren Stellen gezeigt, dass es eine Integration sozialer Standards nicht nur in den Gesetzen braucht, sondern auch in den im Bau angewandten Regelwerken.
Auf der Konferenz, für die sich auch viele Menschen interessierten, die mit Natursteinen handeln, wurde aber deutlich, dass sich diese mit dem Thema Sozialstandards beschäftigen wollen. Es gibt neben den Zertifizieren Fairstone und Xertifix weitere gute Ansätze, Natursteine nachhaltig zu beschaffen. In den Niederlanden wurde beispielsweise die True Stone Initiative gegründet, eine Multi-Stakeholder-Initiative ähnlich dem Textil-Bündnis.
Auch immer mehr Beschaffende interessieren sich das für das Thema und wollen in ihren Ausschreibungen gute Arbeitsbedingungen einfordern. Wie das gehen kann, lernten sie beispielsweise im Praxis-Workshop von Ann-Kathrin Voge von der SKEW, die den Kompass Nachhaltigkeit vorstellte, und Helena Jansen aus Berlin Friedrichshain-Kreuzberg. Die Kommune hat bereits zwei Ausschreibungen erfolgreich durchgeführt und von Xertifix zertifizierte Natursteine verbaut.
Wie sieht es mit der Umsetzung in die Praxis aus in den öffentlichen Vergabestellen in Deutschland, gibt es schon viel Erfahrung und gibt es erfolgreiche Vergabeverfahren, bei denen Sozialstandards für den gelieferten Naturstein eingefordert wurden?
Einige Kommunen achten bei der Beschaffung von Natursteinprodukten schon konsequent darauf, dass diese zertifiziert sind. Das macht beispielsweise Heidelberg so. Da es im Natursteinbereich etablierte und glaubwürdige Nachweise gibt, ist das im Vergleich zu anderen Produktgruppen, etwa der Elektronik, recht gut umsetzbar und auch kaum mit Mehrkosten verbunden. Die Beschaffung heimischer Natursteine scheitert dagegen oft am höheren Preis. Da hat Ellwangen einen guten Weg gefunden, indem sie bei der Neugestaltung des Marktplatzes nur einen kleineren Teil als ursprünglich geplant mit heimischen Steinen, den Rest mit Betonsteinen gepflastert haben. So konnten sie an der Grundsatzentscheidung, nur heimische Natursteine zu verwenden, festhalten. Leider bleiben diese jedoch noch die Ausnahme.
Was sollten wir im privaten und im öffentlichen Einkauf beachten sollten, um dieses Risiko zu reduzieren?
Um Kinderarbeit, Zwangsarbeit und gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen bei Natursteinen auszuschließen, ist es essenziell, bei der öffentlichen Auftragsvergabe die Einhaltung sozialer Standards zu fordern. Die Anforderungen unterteilen sich zum einen in Anforderungen an die Produktion und zum anderen in Anforderungen an den Nachweis. Denn nur, wenn umfassende Anforderungen an beides gestellt werden, kann nachhaltig zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen beigetragen werden. Für alle Anwendungsbereiche und Vergabearten können Gütezeichen zur Nachweisführung angewendet werden und sind daher eine gut anwendbare Nachweismethode.
Kommunen können außerdem heimischen Steinen den Vorzug geben. So wird auch der CO2-Fußabdruck minimiert, der bei Steinen aus Asien aufgrund der langen Transportwege sehr hoch ist.