Über die Verteilung des öffentlichen Raums wird auch in allen deutschen Städten gestritten. Das sind ja keine Diskussionen, die nur in Tbilissi geführt werden.
Torben Heinemann: Nein, sicher nicht, aber es gibt hier keinen wirklichen Vorlauf. Viele deutsche Großstädte haben schon relativ früh angefangen, Busspuren und Radfahrstreifen zu bauen und sehen, dass Fahrradinfrastruktur auch Radfahrende anlockt. Wir haben hier in Tbilissi aber noch einen sehr geringen Radverkehrsanteil. Tbilissi ist eine hügelige Stadt. Neben der fehlenden Infrastruktur nehmen auch die Autofahrinnen und Autofahrer bisher keine Rücksicht auf Radfahrende. Man wird als Radfahrender nicht als Verkehrsteilnehmer respektiert. Da wo wir jetzt Radfahrstreifen neu eingeführt haben, werden diese zum Teil noch nicht in dem Maße genutzt, für was sie ausgelegt sind; es ist eben alles noch sehr dünn, was den Radverkehr angeht. Also, es gibt noch nicht diese Erfolgskurve, dass die Maßnahmen für aktive Mobilität oder den ÖPNV sich schließlich auch lohnen.
Anders ist es beispielsweise schon in Leipzig, wo ich vorher in der Verkehrsplanung tätig war. Da wurde in der zweiten Aprilhälfte 2023 eine vierspurige Richtungsfahrbahn vor dem Hauptbahnhof auf zwei durchgehende Kfz-Spuren reduziert, mit einem neuen Radfahrstreifen und einer Spur für Rechtsabbieger zum Bahnhof für Taxen und Busse. Das kann man machen, wenn man aus der Erfahrung weiß, dass solche Maßnahmen dann auch durch mehr Radverkehr belohnt werden.
Es gibt hier in Georgien also noch nicht diese Erfolgserlebnisse und Tbilissi ist bei vielen Maßnahmen als Hauptstadt auch Vorreiterstadt. Es gibt keine andere Stadt, bei der man sagen könnte, da funktioniert das schon. Die anderen Städte schauen alle nach Tbilissi. Teilweise mit einer sehr abwartenden Haltung. Es ist nicht so, dass man sich jetzt da übertreffen will mit der noch besseren nachhaltigen Verkehrsplanung.
Hinzu kommt, dass wir in der Verwaltung für jede einzelne Maßnahme die richtigen Argumente zusammenstellen müssen. Wir haben Kolleginnen und Kollegen auf der fachlichen Ebene, die das Neue alles verstehen, die das mitgehen, mittragen und die auch die Vorteile sehen. Ich sage gerne, auf der Arbeitsebene in der Verwaltung haben wir 100 Prozent des Fachwissens zusammengetragen. Aber: die Entscheidung trifft dann jemand, der ein viel geringeres Fachwissen, aber 100 Prozent der Entscheidungsgewalt hat. Mit diesem reduzierten Fachwissen und einem Rest Bauchgefühl sowie der persönlichen Erfahrung, was im politischen Raum durchsetzbar ist, trifft derjenige dann letztendlich eine Entscheidung. Die entspricht dann oftmals nicht dem, was wir auf fachlicher Ebene empfohlen haben. So entstehen natürlich Frustrationen, wenn fachliche Argumente ignoriert oder auf der politischen Entscheidungsebene geopfert werden.