Laut UN Flüchtlingshilfe sind im Jahr 2020 bisher 28.025 Geflüchtete in Europa angekommen. Allein in der ersten Hälfte des Jahres sind 340 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer gestorben oder als vermisst erklärt worden. Welche Bedeutung hat der International Migrants Day Ihrer Meinung nach für die Sensibilisierung unserer Gesellschaft?
Dr. Peter Kurz: Die regelmäßige grenzüberschreitende Wanderung von Menschen ist eine Tatsache in unserer globalisierten Welt. Und es ist klar, dass die damit einhergehenden Gestaltungsaufgaben dieser vielgestaltigen, weltweiten Migrationsbewegungen auch in gemeinsamer Verantwortung der Weltgemeinschaft angegangen werden müssen. Genau dafür stehen sowohl der Globale Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration (GCM) als auch der Globale Pakt für Flüchtlinge der Vereinten Nationen. Hierbei ist die Schaffung von Akzeptanz gerade auch in den Gesellschaften der Einwanderungs- und Aufnahmestaaten besonders wichtig. Der Weltflüchtlingstag am 20. Juni oder der Internationale Tag der Migrantinnen und Migranten am 18. Dezember, bei dem es ja nicht um Geflüchtete, sondern um Schutz- und Rechtsstandards von Arbeitsmigrantinnen und Migranten geht, sind geeignet, um bei den Menschen ein Verständnis für die komplexen humanitären und wirtschaftlichen Ursachen, Motive und Zusammenhänge für die weltumspannenden Migrationsentwicklungen herzustellen.
Mannheim engagiert sich umfangreich in der kommunalen Entwicklungszusammenarbeit. Welches sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Wirkungen für Ihre eigene Kommune?
Kurz: Kommunale Entwicklungszusammenarbeit ist in Mannheim längst zu einem integralen Thema der Kommunalpolitik geworden, welches wir insbesondere durch Projektkooperationen mit Kommunen im Globalen Süden adressieren. Wir sind überzeugt, dass kommunale Partnerschaften einen geeigneten Handlungsrahmen bieten, um gemeinsam globale Herausforderungen auf lokaler Ebene zu lösen und den Austausch auf Augenhöhe zu fördern. Sie bieten eine Chance, nachhaltigere Effekte zu erzielen als andere Projektkonstellationen, weil sie unmittelbar Menschen zusammenbringen, die für dieselben Aufgaben in ihren Städten Verantwortung tragen und Kompetenzen besitzen.
Dabei sind solche Projekte keineswegs einseitig: Aus der konkreten Projektzusammenarbeit ergeben sich Chancen und Potentiale für alle beteiligten Partner. Durch den internationalen Erfahrungsaustausch von guten kommunalen Praxisbeispielen wird neues Wissen und interkulturelle Handlungskompetenz gewonnen – und das sowohl in den Kommunen des Globalen Südens, als auch denjenigen im Globalen Norden. Die Stadt Mannheim hat es sich hierbei zum Ziel gesetzt, Vorbild für die internationale Zusammenarbeit von Städten zu sein. Indem wir als Kommune eine Vorreiterrolle einnehmen, haben wir die Möglichkeit, sowohl bei den kommunalen Entscheidungstragenden, als auch in der Bevölkerung ein stärkeres Bewusstsein für die komplexen Problemstellungen einer globalisierten Welt zu entwickeln und können so auch vermehrt die Zivilgesellschaft für die Entwicklungszusammenarbeit mobilisieren.
Hierbei nutzt und aktiviert Mannheim gezielt das Engagement der in Mannheim lebenden Einwandererfamilien und ihrer Nachkommen für ihre Herkunftsländer. Dieser Personengruppe kommt hierbei eine bedeutende Rolle als Mittler zwischen Stadtverwaltung und Partnerkommune sowie der dortigen Bevölkerung zu. Durch die aktive Einbindung der migrantischen Bevölkerung in die kommunale Entwicklungszusammenarbeit findet somit auch eine Anerkennung des zivilgesellschaftlichen Engagements dieser Bürgerinnen und Bürger statt. Die kommunale Entwicklungszusammenarbeit leistet damit auch einen wichtigen Beitrag zur Förderung von Integration und Zusammenleben in Vielfalt.
Welche Strategien verfolgt Mannheim, um die Diversität der Bevölkerung mit Blick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt nutzbar zu machen?
Als eine, nicht nur mit Blick auf die Migration vielfältige und pluralisierte Stadtgesellschaft, sind für uns in Mannheim drei Aspekte strategisch wichtig: Erstens bedarf es der Verständigung über die gemeinsam geteilten Werte und Normen des Zusammenlebens, die über die Unterschiedlichkeiten hinweg für unser Zusammenleben und unseren Zusammenhalt wesentlich sind. Mit der im Rahmen eines breiten institutionellen Beteiligungsprozesses entstandenen Mannheimer Erklärung für das Zusammenleben in Vielfalt ist dieser von einer breiten Mehrheit getragene Konsens des Miteinanders formuliert. Zweitens bedarf es der Prozesse, Orte und Gelegenheiten für die Begegnung und das Zusammenwirken in Vielfalt. Nicht zuletzt durch verschiedene Förderprogramme etablieren sich in Mannheim sowohl Netzwerkstrukturen als auch konkrete Vielfaltskooperationen, in denen ganz unterschiedliche Formen des Zusammenwirkens im Sinne der Mannheimer Erklärung für das Zusammenleben in Vielfalt realisiert werden. Ziel hierbei ist stets der Zugewinn neuer oder anderer Perspektiven für die Beteiligten, was insgesamt die „Vielfaltskompetenz“, das heißt den konstruktiven, wertschätzenden Umgang mit Unterschiedlichkeiten, in unserer Stadtgesellschaft erhöht. Drittens ist hierbei wesentlich, im Besonderen solche Milieus und gesellschaftliche Gruppen mit einzubinden, für die gesellschaftliche Beteiligung aus unterschiedlichen Gründen nicht ohne weiteres möglich ist. Gesellschaftliche Teilhabe ist nicht voraussetzungslos. Durch quartiers- und sozialraumspezifische Handlungsansätze versuchen wir in Mannheim, gerade auch die im politisch-öffentlichen Raum weniger wirkungsmächtigen Gruppen systematisch stärker sichtbar zu machen.
Sie engagieren sich auch im Mayors Migration Council. Dessen Anliegen ist es unter anderem, die Möglichkeiten der Migrationspolitik so an die kommunalen Voraussetzungen anzupassen, dass sowohl aufnehmende Kommunen als auch Menschen mit Fluchtgeschichte gleichermaßen profitieren. Welches sind aus Ihrer Sicht Erfolgsfaktoren in diesem Prozess?
Kurz: Dies ist ein mehrstufiger Prozess. Wir wissen, dass es für Städte, sowohl in den Herkunfts-, als auch den Ankunftsländern von Migrantinnen und Migranten wichtig ist, eng mit den nationalen Regierungen und internationalen Institutionen wie der UNESCO und UN-HABITAT zusammenzuarbeiten. Der Schlüssel zum Erfolg war sicherlich die gleichzeitige Forderung nach Veränderungen auf unterschiedlichen politischen Ebenen (national und international). Dies will ich an zwei Beispielen verdeutlichen:
Zum einen waren wir aktiv daran beteiligt, dass der Mayors Mechanism im Rahmen der Berichterstattung für den Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration etabliert wurde. Der Mayors Migration Council (MMC) steuert den Mayors Mechanism mit, der den Städten die Möglichkeit gibt, die Debatten innerhalb des Globalen Forums für Migration und Entwicklung (GFMD) zu beeinflussen, aber auch in verstärktem Maße miteinander und mit den nationalen Regierungen in einen Austausch zu treten. Dies verschafft den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern formelle Anerkennung und Möglichkeiten zur Mitwirkung. Zum anderen wurden im Rahmen des Globalen Forums für Migration und Entwicklung in Quito Anfang dieses Jahres die Städte wie nie zuvor in die Debatte einbezogen, einschließlich formeller Partizipationsmöglichkeiten für Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Mit diesem Ansatz können wir einen Wandel herbeiführen. Die Lösung globaler Herausforderungen und Fragen kann nur durch eine umfassende Beteiligung der lokalen Ebene erfolgen. Unsere bisherigen Errungenschaften haben die Türe einen Spalt weit aufgestoßen, aber wir müssen uns weiterhin aktiv für eine Multi-Level-Governance einsetzen.
Was hat Sie persönlich motiviert, in diesem Netzwerk aktiv zu werden?
Kurz: Die Offenheit für Migration ist bereits in der Mannheimer Geschichte verankert. Der Gründer unserer Stadt, Friedrich IV., warb 1607 in mehrsprachigen Stadtprivilegien aktiv um Zuwanderinnen und Zuwanderer. Heute ist Mannheim eine lebendige und vielfältige Stadt, in der Menschen aus rund 170 verschiedenen Ländern leben. Fast die Hälfte der Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund. Migration ist für mich vor allem deshalb ein wichtiges Thema, da wir in den Städten die Auswirkungen der internationalen und nationalen Migrationspolitik am unmittelbarsten spüren. Deshalb ist es für Städte wie Mannheim essentiell, an den politischen Entscheidungsprozessen beteiligt zu sein. Städte müssen genauso wie die nationalen Regierungen in die Debatten auf internationaler Ebene einbezogen werden. Der Mayors Migration Council bietet uns eine wichtige Plattform, um Schlüsselfragen der Migration nicht nur miteinander, sondern auf allen Ebenen zu diskutieren. Deshalb haben wir uns engagiert und deshalb setzen wir uns weiter für die Arbeit des Mayors Migration Council ein.
Der internationale Austausch mit anderen Akteuren der Entwicklungszusammenarbeit spielt beim Mayors Migration Council eine zentrale Rolle. Was meinen Sie, was können deutsche Kommunen von Kommunen anderer Länder lernen?
Als freiwillige kommunale Aufgabe ist das Themenfeld der kommunalen Entwicklungszusammenarbeit ein noch recht junges Handlungsfeld, welches jedoch in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen hat. In vielen Kommunen befinden sich die Strukturen für die Umsetzung solcher Projekte und die Bereitstellung entsprechender personeller Ressourcen noch im Aufbau. Durch den Austausch zwischen entwicklungspolitischen Akteuren weltweit können wir von den Erfahrungen anderer Kommunen profitieren und auf bereits existierenden Strukturen aufbauen. Gleichzeitig ermöglicht eine aktive Vernetzung, die kommunale Entwicklungszusammenarbeit stärker an den Bedarfen der Kommunen aus dem Globalen Süden auszurichten.
Bislang ist die kommunale Entwicklungszusammenarbeit vorrangig bilateral organisiert. Langfristig sollte es aber unser Ziel sein, verstärkt in multilateralen Kooperationen zusammenzuarbeiten. Dies bezieht sich dabei sowohl auf die Einbeziehung mehrerer Kommunen, als auch Kooperationen mit institutionalisierten Organisationen der Entwicklungspolitik. Die drängendsten Entwicklungsherausforderungen, denen die Welt aktuell gegenübersteht, sind komplex und zumeist grenzüberschreitend. Diese erfordern daher auch integrierte Ansätze unter Einbindung verschiedenster Stakeholder. Multilaterale Kooperationen können daher Synergien schaffen, die wir über die bestehenden Netzwerke und Organisationen, wie den Mayors Migration Council, nutzen können und sollten.